Marianne Burki
über das Werk von
Marlise Mumenthaler
Balancen der wirklichen Versunkenheit
Einmal sitzen zwei Personen auf einer Bank, vor ihnen Lichtflecken auf dem Boden, blicken von der verglasten Haltestelle aus aufs Meer − und irgend jemand hat diesen Moment eingefangen. Sie haben Zeit.Visuell werden die emotionalen Befindlichkeiten von der Umgebung unterstützt: warmes Sonnenlicht, welches auf den Boden fällt, eine Wand, die einen leichten Glanz wiedergibt, ein architektonischer Raum, der in sich ruht − Dinge, die wir nun wahrnehmen, wenn wir innehalten und uns einen Moment lang vergessen.
PROZESSE
Marlise Mumenthaler entwickelt ihre Arbeit aus der Wirklichkeit. In einem ersten Schritt ist sie mit dem Fotoapparat unterwegs auf der Suche nach jenen Augenblicken der wirklichen Versunkenheit. Diese zu sehen und fotografisch festzuhalten ist ein zentraler Teil des Arbeitsprozesses. Und nicht immer ist diese Suche einfach, denn solche Momente sind kostbar und selten. Natürlich sind einige Orte wie Museen oder auch Orte des Wartens, etwa einer Flughafenhalle, für diese Art der Recherche besonders geeignet. Doch Versunkenheit lässt sich nicht nachstellen, muss von selbst entstehen und von der Künstlerin gefunden und im richtigen Moment festgehalten werden.
Ob sich spannungsvolle Situationen einstellen ist ungewiss. Denn es sind immer die Menschen, eine spezifische Konstellation, die schliesslich über das Gelingen einer Arbeit wesentlich entscheiden − eine menschenleere Architektur führt zu keinem Werk. Andererseits spielen aber auch äussere Faktoren wie Licht, Schatten und Reflexe eine wichtige Rolle. So ist etwa stumpfes Licht der Plastizität der Figuren, aber auch der Architektur abträglich und eignet sich nicht für die Umsetzung in die Malerei.
Im Atelier wird aus den unzähligen Fotografien eine erste Auswahl getroffen. Dieser Entscheidungsprozess wir aufwendig in mehreren Schritten fortgeführt. Mitunter greift Marlise Mumenthaler erst Jahre später auf ein Bild zurück. Je nach Fokus auch eines thematischen oder malerischen Interesses ist dieses dann plötzlich das «Richtige». Einmal ausgewählt, setzt die Überführung des Gesehenen und Festgehaltenen in die Malerei ein, ein malerischer und kompositorischer Prozess beginnt. Meist wir die Fotografie gleichsam entleert, vieles wir vereinfacht und es folgen Entscheidungen über den Bezug zur Wirklichkeit.
In der Umsetzung zeigt sich, ob sich all die vorhergehenden Schritte im Resultat bewähren und das Bild in der Malerei ebenfalls funktioniert. Es kann etwa sein, dass eine rote Wand zu stark wirkt. Natürlich könnte sich in der Malerei die Farbe der Wand verändern, doch oft verliert dann das ganze Bild, beziehungsweise die ganze Stimmung ihren Reiz, der in der Fotografie noch vorhanden war. Es kann auch sein, dass die Komposition doch nicht stimmt, ein Ausschnitt nicht der richtige war oder dass die gewünschte Atmosphäre nicht aufkommt
DISTANZ ODER NÄHE
Im Laufe der Zeit haben sich die Werke trotz des gleich bleibenden Arbeitsprozesses verändert. In den jüngsten Arbeiten treten Fragen nach Nähe oder Distanz zur «Wirklichkeit» beziehungsweise zur Fotografie stärker in den Vordergrund. Präzisere Aussenräume etwa rücken die Realität näher und untersuchen die Schnittstelle zwischen einem ganz bestimmten Ort und anonymer Umgebung. Genau diese Spannung zwischen Illusion und Distanz, zwischen Spezifischem und Allgemeinem, wirft Fragen auf. Denn sie beeinflusst die Identifikation der Betrachtenden mit dem Bild: Denken wir an uns oder an die Personen im Bild? Denken wir an irgendeinen oder an einen bestimmten Raum in einer Stadt? Und schliesslich: Sehen wir uns selbst im Bild oder geht es um andere? Damit werden wesentliche Entscheidungen über die Art der emotionalen Bindung ans Werk getroffen.
«On commence toujours par imiter.» Dieser Satz aus einem der Tagebücher des französischen Künstlers Eugène Delacroix erfasst auf einfache Weise einen sehr komplexen Sachverhalt. Der Satz ist entspannend, weil er die Arbeit an etwas bereits Bestehendem grundsätzlich an den Anfang stellt und so sehr viel Hoffnung für Nachfolgendes in Aussicht stellt. Andererseits herausfordernd, weil er deutlich macht, wie schwierig es ist, etwas wirklich Neues zu machen. Er betrifft alltägliche Handlungen ebenso wie die künstlerische Arbeit. Es ist ja tatsächlich meist so, dass wir Dinge tun, die andere vor uns schon getan haben. Oft haben viele Menschen vor uns in den Räumen gelebt und gearbeitet, in denen wir uns bewegen. Sie haben dieselbe Tapete betrachtet, und oft wohl dieselben Gedanken darüber gehabt, so individuell wir uns auch jeweils fühlen. Unzählige sind vor uns mit Freunden durch ein Museum gewandelt oder haben vor einem schönen Fensterausblick innegehalten. Unzählige haben am Flughafen gewartet, sind am Wasser gesessen. Es sind diese alltäglichen Wiederholungsmomente, die in den Bildern von Marlise Mumenthaler auftauchen. Als Betrachtende sind wir Teil dieses Erlebnisses, sind wir vielleicht auch die Person, die einen Moment innehält und sich etwa dieses Wartens im Flughafen bewusst wird.
Während in vielen früheren Werken im malerischen Prozess entleerte Räume oder Plätze viel zum Eindruck der Stille und der Komtemplation beitrugen, sind in den jüngsten Arbeiten auch die Architekturen belebt mit ihren realen Strukturen präsent − mit Glanzlichern und Spiegelungen. Vielleicht sind auch die Menschen eine Spur illusionistischer ins Bild gesetzt. Doch was heisst dies für die Wahrnehmung dieser Malerei? Ist sie durch gesteigerte Detailliertheit figurativer? Ist sie dadurch einfacher, da näher an der (fotografischen) Wirklichkeit? Wann wird die Vertrautheit mit dem Bild durch eine Lokalisierung, durch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale einer Figur zu Distanz, so dass wir nicht uns, sondern andere sehen und so auch nicht die unmittelbare Vertrautheit der Wiederholung erleben?
Die jüngsten Werke von Marlise Mumenthaler bewegen sich zwischen der Illusion des Vertrauten, schon wiederholt Erlebten und der Nachahmung einer bestimmten Wirklichkeit. Und so werden Betrachtende zwischen Nähe und Distanz hin und her pendeln: zwischen der Identifikation, indem sie sich im Bild erkennen und Bekanntes wieder erleben und dem Sinnieren darüber, wer diese Personen denn nun wirklich sind und wo sie sich bewegen und ob dies überhaupt von Bedeutung ist. Beides ist in den Bildern angelegt und hält sich die Waage.