Karl Bühlmann
über das Werk von
Marlise Mumenthaler
Zu den Bildern von Marlise Mumenthaler
Alles scheint gleich und unbekannt zu sein − und ist es doch nicht. Wir erkennen Frauen und Männer, jüngere und ältere Menschen, touristisch und geschäftlich Gekleidete, erkennen an Schritt und Kopf die Flaneure und die Eiligen, die Ziellosen und die wie auf dem Schachbrett von der Notwendigkeit des nächsten Gewinnzuges gelenkten Figuren. Bewegungen und Blicke sind erkennbar, Körperhaltungen ersetzen das Geräusch der Schritte und der Stimmen, die Schatten zeigen uns die Morgen-, Mittags- und Abendstunden an. Den Bildern ist gemeinsam: Sie vermitteln den Eindruck von Stille, von einer gedämpften Atmosphäre und von Ruhe. Sie erhaschen einen kleinen Unterbruch der Zeit, der sich nicht so rasch wieder aufzulösen scheint. Unsere Konzentration ist auf einen Platz oder Raum, auf die Architektur oder die Position von Figuren gerichtet. Die Präzision der Darstellung gilt einem bestimmten Augenblick der Bewegung, des Lichteinfalls, des Tagesgeschehens. Durch die Aufmerksamkeit auf das Spiel von Licht und Schatten erfahren wir vieles von Schönheit, Atmosphäre und Geschichte der Plätze und Räume.
Marlise Mumenthaler entwickelt ihre Arbeit aus der beobachteten Realität. In einem ersten Schritt ist sie mit dem Fotoapparat unterwegs, auf der Suche nach jenen Augenblicken der wirklichen Versunkenheit. Im Atelier wird aus den hunderten oder manchmal tausenden von Fotografien eine erste Auswahl getroffen. Dieser Entscheidungsprozess verläuft über mehrere Stufen. Sind Motiv und Ausschnitt einmal ausgewählt, setzt die Überführung des Gesehenen in die Malerei ein, der kompositorische Prozess beginnt. Die Fotografie wird gleichsam entleert, der Schauplatz vereinfacht, der Bezug zur Wirklichkeit malerisch materialisiert.
Wir werden, wie die Malerin von oben auf den Platz blickend, voyeuristische Eingeweihte eines Planes und einer Passage, die man nicht zur Gänze überblickt. Man glaubt, alles zu verstehen, und man weiss doch nichts von dem, was sich in den Köpfen der Abgebildeten abspielt, was im Bruchteil eines Augenblicks auf dem Bild ‹eingefroren› ist. «Vieles wird schön, wenn es einfriert in Bedeutungslosigkeit», schreibt Botho Strauss. Kein Erzählen, kein Erinnern füllt diese Lücken auf, die Einsamkeit ist gleich elektrisierend wie die Freundschaft.